Das beste Mittel gegen Vorurteile: Hinhören – Ein Gastbeitrag von Simon Albers (Mediterranean Hope)

Simon Albers hat Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit studiert und war nach seinem Master-Abschluss sieben Wochen lang auf Lampedusa. Dort hat er das Projekt Mediterranean Hope unterstützt. Auf seinem Blog lampedusa.ekvw.de berichtete er von September bis November 2015 von Begegnungen mit Flüchtlingen und ihren Geschichten, von seinen Erfahrungen mit sperriger Bürokratie, von Katastrophenökonomie und von der Militarisierung einer Insel.

Vor ziemlich exakt einem Jahr bekam ich von der Evangelischen Kirche von Westfalen das Angebot, auf Lampedusa zu arbeiten. Dort sollte ich das italienische Projekt Mediterranean Hope unterstützen. Auf Lampedusa arbeitet ein junges Team daran, mit Hilfe von Öffentlichkeitsarbeit, Vorträgen und Diskussionen ein differenziertes Bild der ankommenden Flüchtlinge und der damit verbundenen politischen Situation zu zeichnen. Meine Aufgabe sollte es sein, vor Ort die Geflüchteten im Hafen zu empfangen, mit ihnen zu reden und über ihre Schicksale zu berichten.

Lampedusa: Zurück in den Fokus

Mein erstes Gespräch mit Oberkirchenrat Ulrich Möller fand am 18. April 2015 statt. Die allgemeine mediale Aufmerksamkeit galt zu der Zeit dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine; Lampedusa war beinahe vollständig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Am Tag darauf kenterte auf dem Weg von Libyen nach Italien vor Lampedusa ein Flüchtlingsboot. 800 Menschen ertranken.

Am Sonntag dem 6. September, also exakt eine Woche vor meiner Ankunft auf Lampedusa, kamen in Dortmund 2500 Flüchtlinge an, die von Ungarn aus mit dem Zug angereist waren. Die Ruhrnachrichten schrieb von einer „Welle der Hilfsbereitschaft (…), wie sie Dortmund lange nicht erlebt hat“.

Bilder von freiwilligen Helfern, die Flüchtlinge Willkommen hießen, gingen um die Welt und schienen einen Gegenentwurf zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Heidenau oder Freital zu zeichnen. „Refugees welcomed warmly in Germany“ betitelte der Guardian einen Beitrag über die Ankunft der Flüchtlinge in Frankfurt. Als ich exakt eine Woche später um 17.30 Uhr in das Flugzeug stieg, das mich von Palermo aus weiter nach Lampedusa bringen sollte, wurden an der Grenze zwischen Deutschland und Österreich Grenzkontrollen eingeführt.

Lampedusa ist überall

Während meines Aufenthalts am Rande Europas begann die Umverteilung von Flüchtlingen auf andere europäische Länder: Insgesamt lediglich 19 Eritreer wurden von Lampedusa aus nach Stochkholm geflogen. Am Ende meines Aufenthalts nannte Karl Knopp, der Europareferent von Pro Asyl, die griechische Insel Lesbos anlässlich der dort stattfindenden Katastrophe das „neue Lampedusa“. Pegida feierte im Herbst in Dresden sein erschreckendes und volksverhetzendes Jubiläum.

Heute erleben wir in Deutschland nicht nur die Weltoffenheit und Toleranz des vergangenen Septembers, sondern auch menschenunwürdige Vorgehensweisen, Ängste, Nöte, Hass und Dummheit. Wenn von Obergrenzen gesprochen wird, Respektlosigkeit vor Frauen in einem Atemzug mit Kultur und Herkunftsländern genannt wird und soziale Netzwerke ohne Folgen zur Verbreitungen rassistischer Hetze genutzt werden können, werden Flüchtlinge stigmatisiert und auf eine gefährliche Weise verallgemeinert.

Der Einzelfall zählt

Wie jeder, der mit Geflüchteten zusammenarbeitet, habe ich auf Lampedusa einmal mehr erfahren, wie töricht es ist, von „den Flüchtlingen“ zu reden. Im Gespräch habe ich eritreische Frauen kennen gelernt, die an Europa vor allem das Verbot von Gewalt gegenüber Frauen schätzen. Ein Mann aus Nigeria erzählte mir, wie sein bester Freund in seiner eigenen Wohnung erschossen wurde; ohne dass dieser Fall jemals verfolgt wurde. Er wünschte sich vor allem ein funktionierendes Rechtssystem. Ich traf einen anderen Mann aus Marokko, der von seinem Gehalt nicht leben konnte. Zehn Jahre lang arbeitete er am Hof des Königs und hatte trotzdem nicht genug Geld für eine Zugfahrkarte, um seine Familie am anderen Ende des Landes zu besuchen. Seine Arbeit hätte ihn beinahe umgebracht: Täglicher Umgang mit giftigen Chemikalien, ohne Handschuhe und Schutzmaske. Er träumte von einem Ort, wo Gesetze zum Arbeitsschutz gelten und wo er für Arbeit bezahlt wird. Ein Wirtschaftsflüchtling?

Wer solche Einzelschicksale kennt, spricht in der Regel wahrscheinlich seltener von „den Flüchtlingen“ geschweige denn einem „Flüchtlingsstrom“ und geht mit Begriffen wie „Wirtschaftsflüchtling“ sehr vorsichtig um. Kein Flüchtling flieht ohne Grund. Niemand riskiert sein Leben, lässt seine Heimat zurück und zahlt viel Geld für eine gefährliche Reise und eine ungewisse Zukunft, wenn er eine Alternative hat. Das hilfreichste Mittel gegen Vorurteile ist das Zuhören. Für alle, die mit Geflüchteten arbeiten, aber auch für die Menschen, die mit ihnen zusammen leben.

Besuchen Sie den gemeinsamen Blog des Projekts Mediterranean Hope und der EKvW, auf dem Simon ausführlich von seinen Erfahrungen und Begegnungen berichtet hat!

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